Und niemand hatte Schuld …
|
|
über eine Kindheit vor Handy, Playstation und Internet
Wenn du als Kind in den 50er-, 60er- oder 70erJahren lebtest, ist es zurückblickend kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten! Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt in strahlenden Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit Bleichmittel. Auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm. Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen wir nach einigen Unfällen klar. Wir verließen morgens das Haus zum Spielen. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste, wo wir waren, und wir hatten nicht mal ein Handy dabei! Wir haben uns geschnitten, brachen uns Knochen und Zähne, und niemand wurde deswegen verklagt. Es waren eben Unfälle. Niemand hatte Schuld, außer wir selbst.
Wir aßen Kekse und wurden trotzdem nicht zu dick. Wir tranken mit unseren Freunden aus einer Flasche, und niemand starb an den Folgen. Wir hatten nicht: Playstation, Nintendo 64, X-Box, Videospiele, 64 Fernsehkanäle, Filme auf Video, Surround-Sound, eigene Fernseher, Computer, lnternet-Chatrooms. Wir hatten Freunde. Wir gingen einfach raus und trafen sie auf der Straße. Oder wir marschierten einfach zu deren Heim und klingelten. Manchmal brauchten wir gar nicht klingeln, sondern gingen einfach hinein. Keiner brachte uns, keiner holte uns. Wie war das nur möglich? Wir dachten uns Spiele aus mit Holzstöcken und Tennisbällen. Außerdem aßen wir Würmer. Und die Prophezeiungen trafen nicht ein: Die Würmer lebten nicht in unseren Mägen für immer weiter, und mit den Stöcken stachen wir nicht besonders viele Augen aus. Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung. Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung. Mit alldem wussten wir umzugehen.
Du gehörst auch dazu? Herzlichen Glückwunsch!
Herbert Dick
Quelle: Zeitschrift TV Hören und Sehen
|
|
|
|
|
Tante Ulli
(Titel: Tante Emma, Musik: Udo Jürgens, Text: Eckart Hachfeld / Wolfgang Spahr)
Im Einkaufs-Center und Discount,
da bin ich immer schlecht gelaunt.
Im endlos großen Supermarkt,
da droht mir gleich ein Herzinfarkt.
Da liegen die Regale voll,
ich weiß nicht, was ich nehmen soll.
Da wird das Kaufen zur Tortur,
ich geh' zu Tante Ulli nur:
Im Tante Ulli Laden,
an der Ecke vis-à-vis.
Wenn an der Tür die Glocke bimmelt,
ist das beinah' schon Nostalgie.
Im Supermarkt bin ich allein,
beim Suchen hilft mir da kein Schwein.
Ich schieb' die Karre hin und her,
und schau' bei ander'n: Was kauft der?
Dann steh' ich Schlange beim Bezahl'n,
na, das ist gar nicht auszumal'n.
Ich weiß', wo ich noch Kunde bin,
ich geh' zu Tante Ulli hin.
Im Tante Ulli Laden,
an der Ecke vis-à-vis.
Wenn an der Tür die Glocke bimmelt,
ist das beinah' schon Melodie.
Bei Tante Ulli ist's privat,
sie ist kein Warenautomat.
Sie sagt, wenn ich nicht zahlen kann,
was macht das schon, dann schreib' ich an.
Wenn Tante Ulli nicht mehr ist
und ein Discount den Laden frißt,
setz' ich mich auf den Bürgersteig
und trete in den Hungerstreik.
Im Tante Ulli Laden,
an der Ecke vis-à-vis.
Wenn an der Tür die Glocke bimmelt,
ist das beinah' schon Poesie.
Tante Ulli,
Tante Ulli,
Tante Ulli
Herbert Dick
|
 |
|
 |
 |
|
|
Ellbogen-Gesellschaft
Ulrich Wickert über Egoismus
Wer eine schnelle, dicke Karre hat, darf andere von der Autobahn fegen. Egal, ob sie dann vor Schreck gegen einen Baum fahren. Wer eine große Aktiengesellschaft leitet, darf eine Millionen-Abfindung erwarten, wenn er seinen Job verliert. Egal, ob das zu Lasten der kleinen Aktionäre geht. Wer staatliche Unterstützung erhält, hat Rückenschmerzen, wenn der Spargel gestochen oder das Obst geerntet werden muss. Sollen doch die Polen pflücken. Erst ich, dann gar nichts: So denken immer mehr Deutsche, die mit Begriffen wie Solidarität und Sozialverhalten nichts mehr anfangen können. Mein Wohl statt Gemeinwohl.
Wir sind auf dem Ego-Trip. Selbstsüchtig sind wir nur noch auf die eigenen Bedürfnisse bedacht - nach dem Motto: Von mir aus, kann jeder tun und lassen, was ICH will. Der egoistische Umgang miteinander erzeugt ein rabiates Ellenbogen-Klima. Das fängt mit Kleinigkeiten an. An der Supermarktkasse fährt mir der Hintermann den Einkaufswagen in die Kniekehlen. Ständig und überall wird laut ins Handy telefoniert, damit bloß alle merken, wie wichtig man ist. Die S-Bahn ist überfüllt, aber einer belegt ungerührt drei Plätze. Dosenpfand? Das geht in New York, aber doch nicht bei uns: Sollen sich andere um die Umwelt scheren.
Früher gab es einmal den Begriff des guten Elternhauses. So wie ein Junge "aus gutem Hause" hatte man sich zu benehmen. Heute gibt es dieses Modell nicht mehr. Kinder haben
keine Tischmanieren und nicht gelernt, Respekt zu zeigen. Man steht nicht mehr auf, wenn man angesprochen wird; man überlässt einer alten Frau nicht mehr den Platz. Stattdessen gelten andere Vorbilder: An den Schulen bestehlen sich Kinder gegenseitig, um bloß die richtigen Klamotten zu besitzen. Wenn aber die Lehrer versuchen, streng durchzugreifen, dann eilen die Eltern herbei und drohen mit dem Anwalt.
Für den Zustand der Gesellschaft darf man nicht die Jugend verantwortlich machen. Schuld sind die Erwachsenen. Denn sie wollen keine Vorbilder mehr sein. Eltern erziehen nicht mehr, weil sie die Auseinandersetzung mit ihren Kindern scheuen. Erziehung heißt Grenzen setzen. Zur Not auch strafen. Für die Erziehung stehen an erster Stelle die Eltern in der Pflicht. Was sie verbocken, kann kein Lehrer reparieren.
Aber auch Lehrer schauen nur zu gern weg. Bei der Einschulung von Erstklässlern empfahl eine Lehrerin, die Mütter möchten ihren Kindern kein Geld mitgeben. Das würde ihnen von den Älteren weggenommen. Und die Lehrer verhindern das nicht? Als eine Mutter sich beklagte, dass Vierzehnjährige in der Pause auf dem Schulhof rauchen, bestätigte der Schulleiter, das sei verboten. Aber das Verbot durchzusetzen sei so schwierig, dass er lieber darauf verzichte. Feige fühlt er sich wohler und schadet dem Gemeinwohl.
Eine Gesellschaft kann nur dann gut funktionieren, wenn sie Regeln kennt - und anerkennt. Regeln, die das reibungslose Miteinander bestimmen. Jeder sollte verstehen, dass es allen das Leben leichter macht, wenn gewisse Spielregeln eingehalten werden. Das beginnt mit dem Respekt gegenüber anderen Menschen. Wer selbst geachtet werden will, darf andere nicht missachten. Wer dem anderen die schicken Klamotten neidet, darf sie ihm trotzdem nicht wegnehmen. Stattdessen kann man lernen, dass Mode kein wirklicher Wert ist. In manchen Schulen gehen engagierte Lehrerinnen und Lehrer inzwischen dazu über, einheitliche Schulkleidung zu empfehlen. So könnten Kinder lernen, ihre Mitschüler nicht mehr nach dem Äußeren, sondern nach deren inneren Werten zu beurteilen.
Unfassbar scheint Ausländern, dass in Deutschland die Frage umstritten ist, ob Höflichkeit, Pünktlichkeit und Benehmen in der Schule gelehrt werden sollen. In Amerika habe ich erlebt, dass der Mann aufsteht, wenn eine Frau den Raum betritt, oder dass man Frauen am Lift oder an der Tür selbstverständlich den Vortritt lässt. Das sind Kleinigkeiten, die Respekt ausdrücken. Da schäme ich mich dann immer wieder für die Rüpelhaftigkeit deutscher Besucher.
In den USA steht der Bürgersinn hoch im Kurs. Jeder zweite Amerikaner engagiert sich aktiv für wohltätige und gemeinnützige Zwecke. In Deutschland ist es jeder Zehnte - Tendenz abnehmend. Stattdessen singen unsere Zeitgeist-Apologeten das Loblied des Egoismus.
Wohin der führt, zeigt die Statistik. Acht von zehn Arbeitnehmern betrügen das Finanzamt. Nur sechs Prozent der Autofahrer halten sich an Geschwindigkeitsbegrenzungen. 670 000 Ladendiebe wurden letztes Jahr erwischt - die Einwohnerzahl Frankfurts. Schwarzarbeit und Sozialbetrug gelten als Kavaliersdelikte.
Sozialreformen scheitern am Egoismus der lnteressengruppen. Der Vandalismus an öffentlichem Eigentum kostet Steuer-Millionen. Soziale Einrichtungen müssen schließen, weil
Geld und Personal fehlen.
Aber es gibt auch ermutigende Beispiele von Gemeinsinn. Der Verein "Schüler helfen Leben" sammelt seit Jahren Geld: Mädchen und Jungen gehen einen Tag im Jahr arbeiten statt in die Schule; so kommen jedes Jahr rund drei Millionen Euro zusammen für soziale Projekte. Pfadfinder im süddeutschen Salach sammelten 100 000 Euro und gründeten eine Jugendstiftung. Junge Menschen zeigen Engagement und Solidarität - so funktioniert Gemeinwohl.
Was sich in Deutschland ändern muss? Wir müssen den Werten wieder einen Wert geben: Anstand, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität sind Grundpfeiler des Zusammenlebens. Die "soziale Gerechtigkeit" braucht einen neuen Inhalt. Sozial ist, wenn den Schwachen geholfen wird. Dafür zweigt jeder einen Teil seines Einkommens ab und zahlt in die Sozialkassen. Wer sich von der Gesellschaft aushalten lässt, handelt unsozial. Nicht der Staat ist für den einzelnen Bürger verantwortlich. Sondern jeder Einzelne von uns ist verantwortlich für diesen Staat.
Ulrich Wickert
|
|
|
|
|
|
|